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Meine Schwerbehinderung

"Mit mir stimmt etwas nicht!"
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Schon von klein auf war ich der Meinung: "Mit mir stimmt etwas nicht. Ich bin anders!" Aber ich habe nie mit jemandem, nicht einmal mit meinen Eltern, darüber gesprochen. Wieso nicht?

Ich wollte nicht, dass meine Eltern oder sonst wer sich Sorgen macht. Und ich hatte davor Angst, dass ich recht haben könnte, und etwas tatsächlich nicht mit mir in Ordnung sein könnte. Was würde dann geschehen? Wären Mama und Papa traurig? Würde ich ihnen Anlass dazu geben, sich Sorgen zu machen? Aber das wollte ich nicht und hielt lieber meine Klappe.

Zudem hatte ich die starke Vermutung, ich würde mich nur anstellen, schließlich bekamen alle anderen Kinder doch auch alles ohne Probleme hin. "Ich muss mich einfach nur mehr anstrengen, ich Dummkopf!", war meine Schlussfolgerung.

Ein Bild von Tirza Gamerdinger, auf dem sie ca. 1 Jahr alt ist. Sie trägt ein weißes T-Shirt unter einer roten Samt-Latzhose mit weißen Streifen. Sie lächelt vergnügt in die Kamera.
Wohin mit den starken Gefühlen?

Mein Bruder ist ca. 11 Jahre älter. (Nein, dies ist kein Scherz.) Schon als kleines Mädchen habe ich zu ihm aufgeschaut und wollte all das, was er konnte, auch können.

Dies führte dann dazu, dass ich mit ca. 1,5 Jahren mal unseren Telefonschrank im Flur auseinander genommen habe. Mein Bruder und meine Eltern lasen im Wohnzimmer jeweils etwas und als mein großer Bruder meinen Eltern etwas aus seinem Buch vorlas, wurde es mir einfach zu viel, denn schließlich wollte ich auch lesen können.

Ich war nun sauer auf ihn, da er lesen konnte, ich war sauer auf mich, da ich es nicht konnte, und einfach sauer auf jeden und alles. Diese ohnmächtige Wut war einfach zu viel für mich. Nur wohin damit? Im Wohnzimmer war vieles aus meiner Reichweite geräumt gewesen, da ich wie jedes Kind Spaß daran hatte, Bücher aus ihren Regalen zu ziehen.

 

Also stapfte ich in den Flur und nahm das Schränkchen auseinander, welches ungefähr so groß war wie ich und in dem meine Mama die Adressbücher aufbewahrte. Am Ende hing die Tür, die selbst für Erwachsene schwer zu öffnen war, aus den Angeln, die Bücher waren zerrissen, und meine Wut... Ja, meine Wut war noch immer da. 

"Ein normaler Tobsuchtsanfall eines kleinen Kindes", mag man jetzt denken. Doch das stimmt nicht.

Erste Symptome: Dissoziation / Depersonalisation

Ich sah, was geschah, ich fühlte es, und doch lief es wie in einem Film vor meinen Augen ab: aus der Ego-Perspektive einer anderen, mir total fremden Person, mit der ich mich nicht mal ansatzweise identifizieren konnte. Ich dissozierte, nahm alles wahr, aber so, als säße ich ca. einen halben Meter weiter hinten.

Dissoziation ist eine Fähigkeit des Gehirns zur Bewältigung von Traumata oder Situationen, die man in dem Moment nicht bewältigen kann. So war es auch bei der Sache mit dem Telefonschrank: die Zerstörung des selbigen half nicht beim Abbauen der Wut und auch nicht dabei, dass ich von jetzt auf gleich hätte lesen können.

Mögliche Formen der Dissoziation sind:

  • Derealisation: Umwelt oder man selbst werden als unwirklich und fremd wahrgenommen

  • Amnesie, man weiß nicht was passiert ist

  • Plötzliche Flashbacks

  • Schmerzen an Stellen des Körpers, die nicht erklärbar sind

  • Hören von Stimmen

  • Bewegungsstörungen, man kann sich nicht mehr bewegen

  • Scheinbar grundlose Ängste

  • Trance- oder Besessenheitszustände

  • Empfindungsstörungen

  • Depersonalisation: man nimmt sich von außen wahr und hat keinerlei Bezug zu einem selbst

Dissoziationen dienen vor allem dazu, die Situation oder das Trauma möglichst heil zu überstehen.

Neben dem Ereignis mit dem Telefonschrank und meiner Wut in der Situation kam es immer und immer wieder zu Momenten, in denen ich dissozierte. Da ich jedoch annahm, dies sei normal, habe ich hiervon nie jemandem etwas erzählt.

Weitere Symptome - viel zu starke Gefühle

Neben dem Gefühl: "Ich bin anders!", welches mich von klein auf schon begleitet, ist es mir schon immer schwer gefallen, Freude zu empfinden bzw. Freude auch anhaltend zu verspüren.

Gefühle, insbesondere Traurigkeit, Wut (siehe oben), Ängste, sowie Selbstzweifel sind bei mir unglaublich stark ausgeprägt und es fällt mir sehr schwer, diese zu kontrollieren oder unter Kontrolle zu bringen.

Mein Bruder erzählt gerne davon, dass ich als Kleinkind dazu in der Lage war, von der einen zur nächsten Sekunde plötzlich zu weinen. Und nein, dies waren dann nicht nur ein paar Tränen, sondern stets sofort eine riesige Fontäne. Wurde ich beruhigt oder veränderte sich die Situation verschwanden die Tränen in der nächsten Sekunde.

Schon die kleinsten Kleinigkeiten die nicht so funktionierten, wie ich es wollte, versetzten mich in Rage. Konnte ich die viel zu starken Gefühle nicht wieder unter Kontrolle bringen, kam es zu Selbstverletzungen.

Wenn ich etwas nicht so zu 100% schaffte, wie ich es wollte und somit nicht meinen eigenen Ansprüchen Genüge tat bzw. nicht den vermeintlichen Ansprüchen anderer gerecht wurde, brach für mich die Welt zusammen und ich hasste und verabscheute mich dafür.

Überdies kann ich mich daran erinnern, wie ich mit 8 Jahren auf dem Balkon im 2. Stock stand und bei mir dachte: ,,Was passiert wohl, wenn ich mich einfach da runter stürze? Wie kann ich es wohl am Besten anstellen, damit ich nicht nur querschnittsgelähmt bin, sondern mir wirklich das Genick breche?" Es war in dem Moment nicht mal wirklich der Wunsch, zu sterben, sondern einfach ein Gedanke, über den ich in den nächsten Monaten immer wieder nachdachte. Und ja, ich war damals noch der Ansicht, dass so etwas völlig normal sei, weswegen ich mit niemandem darüber sprach...

Fazit: quasi von Geburt an habe ich damit zu kämpfen. Womit genau?

Diagnose: Borderline-Persönlichkeitsstörung und rezidivierende schwere Depressionen

Seit letztem Jahr weiß ich dank meinem Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik endlich, was mit mir "nicht stimmt", oder besser gesagt, warum ich mit vielen verschiedenen Dingen so große Probleme habe: ich leide an der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und habe mit wiederkehrenden (rezidivierenden) schweren Depressionen zu tun.

Mögliche Symptome des BPS (5 müssen davon erfüllt werden):

  • Angst davor verlassen zu werden und Bemühungen, es zu vermeiden

  • Mitmenschen und man selbst werden abwechselnd idealisiert oder entwertet

  • Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung

  • Impulsivität z. B. Geldausgaben, ungeschützte sexuelle Eskapaden, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, Essanfälle

  • Suizidalität und Selbstverletzungen, oder auch die Androhung davon

  • Ständiger Wechsel der Stimmungen und schnelle Veränderungen davon innerhalb von Stunden oder Minuten

  • Chronisches Gefühl der Leere

  • Unangemessene, heftige Wut, Schwierigkeit diese zu kontrollieren

  • Vorübergehende Paranoia oder Dissoziationen

Weitere mögliche Symptome die man bei Borderlinern beobachten kann:

  • Schwarz-Weiß-Denken: egal ob bzgl. Situationen oder Personen, es gibt nur ein ,,Entweder" oder ,,Oder"

  • Gefühle zu akzeptieren oder über sie zu sprechen ist problematisch bis unmöglich

  • Das Konzept des Vertrauens wird als abstrakt wahrgenommen und Kritik nur schwer angenommen

Selfie von Tirza. Sie hat eine silberne Kette um den Hals, trägt ein schwarzes Top und einen schwarzweißen Cardigan.

Ein englisches Video, was sehr schön die Hochs und Tiefs von Borderline zeigt (deutsche Untertitel sind verfügbar):

Ursachen von Borderline

Es ist noch immer nicht völlig geklärt, wie diese Persönlichkeitsstörung entsteht.

Mögliche Ursachen:

  • Genetische Prädisposition: man vermutet, dass man eine gewisse genetische Veranlagung für psychische Erkrankungen vererben kann, bisher wurden jedoch noch nicht entsprechende Gene gefunden

  • Einfluss der Umwelt: nein, nicht der Natur, sondern seitens der familiären und sozialen Strukturen und Personen um ein Kind herum

  • Neurobiologie: man konnte nachweisen, dass Borderliner zu einer Unterfunktion des Präfrontalen Cortex (Regulation von Emotionen, emotionale Bewertung) neigen , sowie einem reduzierten Volumen vom Hippocampus (Funktionen des Gedächtnisses) und der Amygdala (Gefühlsreaktionen), auch zu Fehlfunktionen des frontlimbischen Netzwerks (Verarbeitung von Emotionen und Entstehen von Triebverhalten)

  • Traumata: traumatische Erlebnisse in frühster Kindheit beeinflussen die Selbstwahrnehmung und die Persönlichkeit

Wie behandelt man Borderline? - DBT

Gute Erfahrungen hat man diesbezüglich mit DBT gemacht, der dialektisch-behavioralen Therapie. Diese dialektische Verhaltenstherapie ist eine Form der Psychotherapie. Sie wird im ambulanten, wie auch im stationären Bereich angewandt.

Mithilfe dieser speziellen Therapieform wird versucht, dem Patienten folgende Dinge beizubringen:

  • Das Aufbrechen der erlernten falschen Strategien zur Emotions- und Stressbewältigung, die auch dysfunktionale Strategien mitunter einschließt, und durch neue positive, effektivere und nicht-selbstschädigende ersetzen

  • Lernen, dass Gefühle ihre Berechtigung haben und einem helfen sollen

  • Traumabewältigung

  • Verbesserung der Stresstoleranz

  • Achtsamkeit: die Selbstwahrnehmung schulen, so dass man besser darauf achtet, was mit einem geschieht und gerade los ist

  • Nicht eine Situation vorschnell beurteilen und bewerten: nur weil einem in der Vergangenheit schlechte Dinge widerfahren sind, muss es nicht immer so weiter gehen

  • Man darf und hat sogar das Recht, für seine Bedürfnisse einzustehen und auch mal "Nein!" zu sagen

  • Selbstwert verbessern und Hilfestellungen dabei, eine Beziehung zu sich selbst aufzubauen

Anker DBT
Anti-Depressiva als Behandlungshilfe
Das schwarz-weiß Bild zeig eine geöffnete Tabletten-Dose.

Es gibt verschiedene Gruppen von Anti-Depressiva, die alle verschiedene Auswirkungen auf die chemischen Komponenten im Gehirn haben, und u. U. diverse Botenstoffe blocken.

Ob man der medikamentösen Behandlung zustimmt oder nicht ist natürlich jedem selbst überlassen und sollte stets gut mit der Hilfe des Psychiaters oder Facharztes überlegt werden.

Vorteile:

  • Wirken unterstützend und stabilisierend auf den Patienten und können so die Therapie voranbringen

  • Depressionen, die oft als Begleiterscheinungen auftreten können, können i. d. R. so gut mitbehandelt werden

  • Hat man mit Schlafproblemen oder geringer Energie zu kämpfen, können die Pillen helfen

Nachteile: 

  • Oftmals muss man Geduld aufbringen, da nicht jedes Medikament bei jedem so anschlägt wie es soll

  • Häufige, mögliche Nebenwirkungen: Gewichtszunahme, Schlafstörungen, Depressionen, Magen-Darm-Probleme, Sexualstörungen, etc.

  • Tabletten verändern nix an den Lebensumständen des Patienten

  • Wird man während der Einnahme der Tabletten schwanger, kann u. U. das Ungeborene geschädigt werden

Schwerbehinderung - seelisches Leiden

Ein halbes Jahr bevor die Diagnose gestellt wurde, hatte ich meine Arbeitsstelle aufgrund von vermehrten Erkrankungen verloren. Da ich nicht wusste, was los war, hatte ich mich stets weiter gepusht und nie völlig auskuriert. Der psychische Stress, den ich mir selbst bereitet hatte, hatte die Situation nur noch schlimmer gemacht.

Mit gestellter Diagnose fragte ich mich nun, wie es weiter gehen sollte und auf anraten des Hausarztes stellte ich einen Antrag auf Anerkennung einer Behinderung. 

"Aber Behinderungen sind doch so Sachen wie Querschnittslähmung oder Blindheit?", mag man sich jetzt denken. Doch auch die Psyche kann einen so großen Einfluss auf einen und das Leben von einem haben, dass man mit verminderter Lebensqualität zu kämpfen hat.

Seit August 2018 ist es offiziell: ich habe einen Grad der Behinderung von 50 und gelte somit als Schwerbehinderte.

Da ich keinerlei Merkzeichen auf meinem Ausweis habe, ist mein einziger Vorteil quasi, dass gewisse Kündigungsschutzrichtlinien gelten, sobald die Probezeit vorbei ist.

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